Im November 2023 präsentierte die „Lancet Commission on Medicine, Nazism, and the Holocaust“ an der MedUni Wien (im Hörsaal des Josephinums) nach knapp dreijähriger Arbeit ihren gleichnamigen Bericht. Die in der Zeit des Nationalsozialismus begangenen medizinischen Verbrechen sind das am besten dokumentierte historische Beispiel für die Beteiligung von Mediziner:innen an Übergriffen gegen vulnerable Personen und ganze Bevölkerungsgruppen. Die Geschehnisse unter dem NS-Regime haben weitreichende Implikationen für die heutigen Gesundheitsberufe, und praktisch jede Debatte zur medizinischen Ethik kann von diesen historischen Einsichten profitieren.
Der Lancet Report zeigt, in welchem Ausmaß Angehörige der Gesundheitsberufe ihren Patient:innen Schaden zufügen können; er zeigt aber auch die Möglichkeiten, Widerstand zu leisten und zum Schutz der Schwächsten beizutragen.
Die Ringvorlesung bietet Beiträge von Co-Autoren des Lancet Report und weiteren renommierten Gästen und bietet die Möglichkeit einer vertieften Auseinandersetzung mit der Geschichte der Medizin im Nationalsozialismus, deren Nachwirkungen seit 1945 sowie den Implikationen für die Medizin heute.
Organisiert von Herwig Czech, Christiane Druml, Sabine Hildebrandt und Anita Rieder.
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Termine
Christiane Druml, Anita Rieder, Herwig Czech
MedUni Wien
Einführung zur Ringvorlesung „Die Lancet-Kommission zu Medizin, Nationalsozialismus und Holocaust: Historischer Überblick, Implikationen für die Gegenwart, Unterrichten für die Zukunft".
Sabine Hildebrandt
Division of General Pediatrics, Department of Pediatrics, Boston Children’s Hospital and Harvard Medical School, Boston, MA, USA
"Von der Routine zum Mord – Anatomie im Nationalsozialismus und ihre Implikationen für heute"
Anatomie im Nationalsozialismus bewegte sich zwischen Routine und ethischer Entgrenzung bis hin zum Mord. Vorallem die Geschichte des Umgangs mit den Opfern des NS Regimes – in Leben und Tod – hat Auswirkungen bis heute in den Büchern und anatomischen Sammlungen aus dieser Zeit, und steht damit paradigmatisch für die Auseinandersetzung mit ethischen Fragen zum biomedizinischen Erkenntnisgewinns.
Herwig Czech
MedUni Wien
Medizin für den „Volkskörper“: „Rassenhygiene“ und „Erbgesundheitspolitik“ in der NS-Zeit
Der Medizin fiel im Nationalsozialismus eine zentrale ideologische und politische Rolle zu, die sich mit der „Sorge um den gesunden Volkskörper“ zusammenfassen lässt. Die Kehrseite bildeten systematische Diskriminierung und Verfolgung von als „erbbiologisch minderwertig“ diffamierten Menschen. Der Vortrag bietet einen Überblick über die Umgestaltung des öffentlichen Gesundheitswesens im Sinne der NS-Ideologie.
Matt Wynia
Center for Bioethics and Humanities, University of Colorado Anschutz Medical Campus, Aurora, CO, USA
The Legacy of Health Professionals in the Nazi Era for Contemporary Bioethics – An American Perspective
The history of medical involvement in the Holocaust has influenced every aspect of contemporary bioethics, from its emphasis on patient autonomy and consent to how we think about public health ethics, managed care ethics, and ethical issues at the beginning and end of life. But the Nazi’s did not arise out of an international vacuum, and anyone who teaches this history should seek to understand their own country’s history of eugenics, racism, military medical ethics, disability bias and more. Dr Wynia will explore the history of medical involvement in the Nazi era with special attention to how American medical and race policies intersected with German medical and race policies before and after the war.
Hinweis: Dieser Termin wird in englischer Sprache abgehalten.
Christiane Druml
MedUni Wien
Die Regulierung der klinischen Forschung im Zeitalter der Autonomie – Der Nürnberger Kodex und die Folgen
Die Geschichte des Patientenschutzes in der heute gültigen Form beginnt nach dem Zweiten Weltkrieg. Die „Medizin ohne Menschlichkeit“, von NS-Ärzten in Konzentrationslagern unter dem Deckmantel medizinischer Forschung praktizierte menschenverachtende Verbrechen, haben dazu geführt, dass im Nürnberger Kodex erste Formulierungen der Patientenrechte vorgenommen worden sind. Diese Formulierungen sind in einer zunehmend durch die Autonomie des Individuums geprägten Welt die Basis der Weiterentwicklung der gesetzlichen Regeln und des „soft law“ geworden.
Anita Rieder und Beatrix Volc-Platzer
MedUni Wien
Public Health und das Vermächtnis jüdischer Ärzt:innen in Österreich
„Ärztinnen jüdischer Herkunft prägten, nicht nur in Wien, aber besonders in Wien, das Fürsorgewesen im Gesundheitsbereich der Stadt. Gertrude Bien, Marianne Stein und andere Ärztinnen vor allem jüdischer Herkunft, leisteten herausragendes und maßgebliches für die Gesundheit der Bevölkerung und waren oft in Bereichen tätig, die besonders die sozialen und gesundheitlichen Situationen von Frauen und Kindern durch ihre Tätigkeit grundlegend beeinflussten. Sie waren häufig organisiert in Frauenrechtsorganisationen, auch international, und setzten sich für die Rechte und Grundbedürfnisse der sozial schwächeren Bevölkerungsgruppen ein. Letztendlich prägte die Verfolgung durch die Nationalsozialisten auf furchtbare Weise ihre Schicksale“.
Carola Sachse
Institut für Zeitgeschichte, Univ. Wien
Figuren im Fokus von evolutionärer und forensischer Genetik. Vom Ende einer langjährigen deutsch-chinesischen Wissenschaftskooperation
Ende 2020 zog sich die Max-Planck-Gesellschaft stillschweigend aus dem seit 2005 gemeinsam mit der Chinesischen Akademie der Wissenschaften betriebenen CAS-MPG Partner Institute for Computational Biology in Shanghai zurück. Ein letzter Anlass dafür war ein Kooperationsprojekt im Schnittfeld von evolutionärer Anthropologie, DNA-Phänotypisierung und forensischer Mikrobiologie, dessen Proband:innen zuletzt mehrheitlich aus der uigurischen Bevölkerungsgruppe kamen. Die New York Times hatte 2019 die Verbindung des chinesischen principal investigator zum chinesischen Ministerium für öffentliche Sicherheit öffentlich gemacht und aufgezeigt, wie westliche Forschungsinstitutionen und Unternehmen zur bio-technologischen Aufrüstung des chinesischen Überwachungsapparats in Xinjiang beitragen.
Diskutiert werden Fragen nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Politik, von Grundlagen- und angewandter Forschung, sowie der (Nicht-)Einhaltung ethischer Normen wissenschaftlicher Forschung (u.a. informed consent) in internationalen Kooperationen insbesondere mit Partnerinstitutionen in autoritär regierten Ländern.
Volker Roelcke
Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Justus-Liebig-Universität Giessen
Medizinische Forschung am Menschen im Nationalsozialismus: Historische Kenntnisse, aktuelle Implikationen
Erzwungene Forschung am Menschen gilt als ein zentrales Charakteristikum der Medizin im Nationalsozialismus. In der Vorlesung werden Akteure, Forschungspraktiken und juristisch-rechtliche Rahmenbedingungen dargestellt, ebenso wird die Frage der Wissenschaftlichkeit thematisiert.
Maike Rotzoll
Institut für Geschichte der Pharmazie und Medizin, Universität Marburg
Die Patient:innenmorde im Nationalsozialismus – ein Medizinverbrechen
Die systematische Ermordung von Menschen mit geistigen Behinderungen oder psychischen Erkrankungen stellt eines der erschütterndsten Elemente der Rolle der Medizin während des Nationalsozialismus dar. Der Vortrag bietet einen Überblick über die Voraussetzungen, den historischen Kontext und die Durchführung dieses Massenverbrechens, das auch enge Verbindungen zur Vernichtung der jüdischen Bevölkerung im Rahmen des Holocausts aufweist.
Astrid Ley
Gedenkstätte Sachsenhausen (Stellvertretende Leiterin)
Kollaboration mit der SS zum Wohle von Patienten? Das Dilemma der Häftlingsärzte in Konzentrationslagern
KZ-Häftlingsärzte, also in Konzentrationslager verschleppte und dort in der Krankenversorgung eingesetzte Mediziner, verfügten über einen nicht unerheblichen Handlungsspielraum und genossen überlebenswichtige Privilegien. Ihre Tätigkeit zwang sie aber zu einer dauernden Gratwanderung zwischen den Befehlen der SS und den Interessen der Patienten. Der Vortrag geht der Frage nach, wie sich die aus vielen Ländern Europas stammenden Häftlingsärzte in diesem Dilemma verhielten.
Über Astrid Ley
Anna v. Villiez
Gedenk- und Bildungsstätte Israelitische Töchterschule, Hamburger Volkshochschule, Hamburg
Die Rolle der deutschen Ärzteschaft im Nationalsozialismus: Ideologische Anpassung und ethische Verfehlungen
Der Vortrag untersucht die institutionelle Verstrickung der ärztlichen Standesorganisationen in das nationalsozialistische Regime und beleuchtet deren aktive Mitwirkung an rassistischen und eugenischen Programmen und an der Verdrängung der jüdischen Kolleginnen und Kollegen. Jenseits der bekannten medizinischen Verbrechen in den Konzentrationslagern wird die Frage nach den ethischen Grenzüberschreitungen im Spannungsfeld zwischen politischer Anpassung und ärztlichem Ethos in der breiten Ärzteschaft diskutiert.
Dagmar Herzog
Graduate Center der City University of New York
Ein anderes Menschenbild: Die Neukonzeption von Behinderung in der post-euthanatischen Gesellschaft
Ob bei der Inklusionsdebatte oder der Pränataldiagnostik, der Streit um den gesellschaftlichen Umgang mit Menschen mit Beeinträchtigungen sowie um die „richtigen“ Lehren, die aus der NS-Eugenik und den „Euthanasie“-Morden zu ziehen sind, kommt nicht zur Ruhe. Der Vortrag geht der Frage nach, wie, wann und durch wen im deutschsprachigen Raum der Nachkriegsjahrzehnte ein radikal neues Verständnis von Behinderung entwickelt wurde. Erst ab den 1970er- und 1980er Jahren konnte eine „antipostfaschistische“ Generation eine neue Behindertenpädagogik mitsamt Schulintegrationsexperimenten einerseits und einer Enthospitalisierungs- und Deinstitutionalisierungsbewegung andererseits ins Leben rufen.
Über Dagmar Herzog
Neueste Publikation: Eugenische Phantasmen. Eine deutsche Geschichte (Suhrkamp 2024)
Podiumsdiskussion:
Medizin, Nationalsozialismus und der Holocaust – Implikationen für heute
Moderation
Christiane Druml, MedUni Wien
Teilnehmer:innen:
Markus Müller, Rektor, MedUni Wien
Anita Rieder, Vizerektorin für Lehre, MedUni Wien
Oliver Rathkolb, Univ.-Prof. retr. für Zeitgeschichte, Univ. Wien
Monika Sommer, Direktorin Haus der Geschichte Österreich
Herwig Czech, MedUni Wien