
(Wien, 31-05-2022) Die bionische Rekonstruktion, also der Ersatz fehlender Gliedmaßen durch künstliche, hat in den vergangenen Jahren große Fortschritte erzielt. Die intuitive Steuerung dieser Prothese sowie die Wahrnehmung der künstlichen Extremität als eigenen Körperteil stellen für die Forschung allerdings weiterhin Herausforderungen dar. Im Rahmen einer Studie unter Leitung des Imperial College London und maßgeblicher Beteiligung der MedUni Wien wurde in diesem Bereich ein wichtiger Durchbruch erzielt. Die Ergebnisse der aktuell in „Science Robotics“ publizierten Ergebnisse zeigen erstmals, wie die verbleibenden natürlichen Reflexe im Körper genutzt werden können, um eine zuverlässige Schnittstelle für die Steuerung bionischer Gliedmaßen zu schaffen und Bewegungen natürlicher zu gestalten.
Um die intuitive Feinabstimmung der Muskelbewegungen zu verbessern, nutzen die Forschungsteams um Dario Farina (Imperial College London) und Oskar Aszmann (Medizinische Universität Wien) körpereigene Reflexmechanismen. Die Bewegungssteuerung künstlicher Gliedmaßen und das Gefühl, dass diese zum eigenen Körper gehören, hängen stark von der sogenannten propriozeptiven Rückmeldung ab. Darunter ist die Wahrnehmung der Lage und Bewegung des eigenen Körpers im Raum zu verstehen, die durch kontinuierliche Informationen aus Muskeln, Sehnen und Gelenken an Gehirn und Rückenmark selbst bei geschlossenen Augen ermöglicht wird. „Die Eingliederung dieser Reflexmechanismen auf Ebene des Rückenmarks in die Steuerung bionischer Prothesen wurde bisher noch nie versucht“, umreißt Co-Autor Oskar Aszmann (Klinisches Labor für Bionische Extremitätenrekonstruktion, Universitätsklinik für Plastische, Rekonstruktive und Ästhetische Chirurgie) die Ausgangslage für die Studie.
Noch nie dagewesene Prothesenkontrolle
So konnte das Forschungsteam erstmals nachweisen, dass natürliche sensorische Informationen in die Befehle zur Steuerung bionischer Gliedmaßen integriert werden können. Erreicht wurde diese Integration durch Modulierung der Aktivität von Steuersignalen über eine Reflexschleife von Sehnenrezeptoren. Konkret wurden jene Sehnen stimuliert, die direkt Rückenmarksreflexe auslösen, sodass eine natürliche und intuitive Steuerung der Bewegungen künstlicher Extremitäten möglich wurde. Dieses System wurde an sieben Patient:innen, die nach Amputation der Unterarme bionische Gliedmaßen erhalten hatten, bei der Ausübung verschiedener Alltagsaktivitäten getestet und führte zu einer „noch nie dagewesenen Prothesenkontrolle“: „Das war das erste Mal, dass wir Patient:innen eine Eigenwahrnehmung ihrer bionische Extremität vermitteln konnten“, beschreibt Oskar Aszmann die Tragweite der Ergebnisse aus der Grundlagenforschung, die schon in naher Zukunft in die klinische Anwendung gelangen und darüber hinaus die Verschmelzung biologischer Prozesse mit technologischen Hilfsmitteln vorantreiben könnten.
Publikation: Science Robotics
Excitation of natural spinal reflex loops in the sensory-motor control of hand
prostheses;
Patrick G. Sagastegui Alva, Anna Böesendorfer, Oskar C. Aszmann, Jaime
Ibáñez, Dario Farina;
DOI: https://www.science.org/doi/10.1126/scirobotics.adl0085